Die große Frage nach dem Sinn, nach dem Warum... sinnlos und dann doch auch wieder sinnvoll. Hin und wieder mache mir Gedanken darüber, warum sie mich treffen muss, diese fiese Krankheit, die mein Leben innerhalb weniger Monate auslöschen kann und meine Kinder zu Halbwaisen und meinen Mann zum Witwer machen würde. Warum nur? Dieses Warum führt mich nicht wirklich zum Aufspüren der Ursachen der Krebserkrankung, aber es führt mich an einen Punkt der Klarheit. Die Jahre vor der Diagnose waren gekennzeichnet durch Selbstverständlichkeiten. Ich nahm vieles in meinem Leben wohl zu selbstverständlich, zu sicher: Liebe, Ehe, Kinder, Familie, Freunde, Job, meine Umwelt bis ins kleinste Detail, das Leben generell und damit nicht zuletzt meine Gesundheit.
Ohne Vorwarnung kommt er dann aus dem Nichts, der Tag, der mein Leben, meine innere Sicherheit, die Selbstverständlichkeiten zum Einsturz bringt, einem Einsturz, der in vielfacher Hinsicht tiefe Wunden reißt. Meine Gesundheit wandelt sich von einem Tag zum nächsten in Krankheit, in eine Krankheit, die schleichend und unbemerkt bei mir eingezogen ist, wo ich doch nie einen Untermieter oder Mitbewohner dieser Art wollte. Wer hat dem Typ die Tür geöffnet, ihn womöglich sogar eingeladen? Am Ende gar ich selbst? Es beginnt ein Verdrängungskampf, ein Kampf ums Überleben, denn anfangs glaube ich inbrünstig, nur einer kann hier wohnen, er mit Namen Brustkrebs, der am liebsten noch weitere Mitbewohner namens Metastasen einladen würde und Partys auf meine Kosten feiern würde, oder eben ich, die Frau, die mit ihrem Mann alt werden möchte und in dreißig Jahren auf ihre Enkelkinder aufpassen will.
„Du musst kämpfen, Bianca!“ Ist Kampf das richtige Mittel? Kampf gegen die Krebszellen, Kampf ums Überleben? Kämpfen gefällt mir nicht, Kampf klingt nach Krieg, nach Feinden, nach Verlusten, nach unnötigem Leid. Bin ich das, eine Kriegerin? Nein, das will ich nicht sein. Besser erscheint es mir da, dem Herrn namens Brustkrebs nachdrücklich und immer wieder bewusst aufzuzeigen, dass das widerrechtliche Mietverhältnis nur auf Zeit oder zu meinen Konditionen besteht. Denn eins ist mal klar, man kann solch knallharte Typen nur durch knallharte Konsequenzen in ihre Schranken weisen. Welche Konsequenzen? Nun, er darf eine Weile gratis bei mir wohnen, wenn er jedoch seine Vermieterin kaputt macht, verliert er sein Zuhause und wird jämmerlich zugrunde gehen. Also sollte er sich freiwillig nach einer neuen Bleibe umsehen oder wenigstens dauerhaft ruhig bleiben und sich an meine Spielregeln halten. Daran erinnere ich ihn regelmäßig, vor allem, wenn es mal wieder irgendwo verdächtig und beängstigend zwickt oder zwackt. Die Angst, dass er nicht mitmacht und seine eigenen Spielregeln aufstellt, diese Angst bleibt dennoch.
Die Wunden, die er, mein verborgener Mitbewohner, an meinem Körper und in meiner Seele gerissen hat, sind tief und vielfältig. Da sind natürlich die offensichtlichen, die körperlichen Spuren, die die Operation, die Chemotherapie und die Bestrahlung hinterlassen haben. Sie sind und bleiben nun ein Teil von mir und auch, wenn sich mein Spiegelbild verändert hat, so sind die Wunden im Inneren doch die Größeren. Das Selbstvertrauen in den eigenen Körper zum Beispiel, das ist in die Brüche gegangen und es dauert wohl eine lange Zeit, bis es wieder gekittet ist. Wie soll ich jemals wieder meinem Körper vertrauen, nachdem er mich so tief enttäuscht hat, nachdem er etwas derart Bedrohliches in mir hat wachsen lassen, ohne dass ich es gespürt habe? Andererseits habe ich erfahren dürfen, wie stark ich bin und wie viel mehr ich hätte ertragen können. Die eigene Leistungsfähigkeit zu erfahren, das gibt auch Kraft.
Nicht nur mich selbst als Individuum hat der Brustkrebs verwundet, nein, auch meine Liebsten, also meinen Mann, meine Kinder, meine Eltern, meine Geschwister und viele mehr.
Meine Mutter ist wegen des für sie unerträglichen Kummers gestorben, ihre Wunden waren zu tief, sie konnte ihre Tochter nicht leiden sehen, sie wollte nicht miterleben, wie der Krebs ihren Enkelkindern womöglich die Mutter nimmt, sie wollte unter allen Umständen verhindern, am Grab ihrer Tochter stehen zu müssen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. So trage ich auch daran, an der Erkenntnis, dass ich den plötzlichen Herztod meiner Mutter vielleicht nicht alleine, aber doch mitverursacht habe.
Die Wunden, die mein Untermieter an meinem Mann und meinen Kindern gerissen hat, die vermag ich meist nur zu erahnen. Wie oft in den vergangenen Monaten war ich schwach und habe als Mutter und auch Ehefrau nicht das zur Familie beitragen können, was für deren harmonisches Funktionieren nötig gewesen wäre? Wie oft war ich in meiner Höhle und wenn ich dann herauskam, unausgeglichen, launisch? Wie oft kamen mein Mann und ich an unsere Belastungsgrenzen und haben einander nicht mehr verstanden, uns voneinander distanziert? Viel zu viele Paare zerbrechen an solch einer Erkrankung und den damit verbundenen zwischenmenschlichen Herausforderungen. Und so hat jede derart tiefe Wunde auch wieder ihre gute Seite. Wenn man es schafft, sie nicht immer wieder aufzureißen, wenn man es schafft, sie erträglich werden zu lassen, weil man sich ihr stellt und sie nicht verdrängt, dann erwächst daraus etwas Wundervolles. Eine Krise erschüttert und verbindet. Bei uns ist es jedenfalls so. Wer weiß, ob wir die Auseinandersetzung mit uns als Paar gesucht hätten, wenn uns nicht der Krebs dazu gezwungen hätte. Aber so gehen wir gestärkt als Paar aus dem Desaster hervor, auch wenn es zwischendurch nicht immer danach aussah.
Mein ungebetener Untermieter hat mir auch gezeigt, wer wirklich zu mir steht, wer wirklich für mich da ist. Freunde sind Freunde, diese Gleichung relativierte sich für mich. So hat mir die Krise auch viele Menschen geschenkt, von denen ich bisher nicht wusste, dass sie mir so nahe stehen, dass sie in der Tat für mich und meine Familie da sind.
Ich merke Tag für Tag mehr, wie mich die vergangenen Monate verändert haben. Prioritäten verschieben sich radikal und so kann ich heute vieles gelassener sehen, was mich früher ungemein gestresst oder aufgeregt hätte. Die Wohnung ist nicht aufgeräumt und es kommt Besuch? Was soll's, ... wer mich daran misst, muss gar nicht erst zu Besuch kommen. Hinter mir an der Ampel hupt ein Ungeduldiger? Was soll's, ... sich aufzuregen ändert auch nichts. Ich bekomme mit, wie ein paar Leute über andere lästern? Was soll's, ... die Armen werden irgendwann vielleicht merken, wie oberflächlich sie sind. Früher hätte ich mich aufgeregt und eine böse Bemerkung losgelassen, der meinen Blutdruck ins Unendliche getrieben hätte. Heute denke ich mir, das ist es nicht wert. Allen alles Recht machen zu wollen? Allen gefallen wollen und mit allen gut auskommen? Was soll's ... man kann das Heu nicht immer auf der gleichen Bühne haben. Da ist es besser, sich selbst treu zu bleiben und das fällt mir heute viel leichter.
Die Antwort auf die große Frage nach dem Warum ist für mich nach langen Monaten der Angst und Quälerei also von Hoffnung, Dankbarkeit und einem tiefen Sinn geprägt:
Welchen Sinn ich meine? Ich ...
... überdenke mein Leben als Ganzes und ordne es neu.
... lerne die Schönheit um mich herum bewusster wahrzunehmen.
... bin zutiefst dankbar für jede Minute, jede Stunde, jeden Tag.
... weiß nun besser, was ich will und was definitiv nicht mehr Teil meines Lebens sein soll.
... möchte das Motto „Leben und leben lassen“ nicht nur so dahinsagen.
... darf die uneingeschränkte Liebe einiger Menschen erwidern.
... erfahre, wer aufrichtiger Freund auch und gerade in schweren Zeiten ist.
... weiß, wo ich hingehöre.
Laufe nicht der Vergangenheit nach und verliere dich nicht in der Zukunft.
Die Vergangenheit ist nicht mehr.
Die Zukunft ist noch nicht gekommen.
Das Leben ist hier und jetzt.
(Buddha)