Vier Tage des neuen Jahres sind bereits verstrichen. Den Jahreswechsel habe ich doch glatt verschlafen. Fünf vor zwölf ließen sich meine Augen wohl nicht mehr dazu bewegen, noch etwas offen zu bleiben. Das war so nicht gewollt. Arrrgggll. Ärgerlich. Die Chemo-Tabletten und meine sonstigen Medikamente sorgen nach wie vor jeden Abend dafür, dass mir die Augen unfreiwillig zufallen ... früher oder später. Da Annika bedingt durch ihre Windpocken extrem unruhig ist, sorgt auch sie noch für schlaflose Nächte. Nun, irgendwann holt ihn sich der Körper dann eben, den überfälligen Erholungsschlaf, ... ohne Rücksicht auf etwaige Feste oder Feuerwerke oder gefüllte Sektgläser zum Anstoßen. Ein – bedingt durch Sentimentalitäten an Weihnachten und Silvester – sorgenvoller Blick in die Zukunft und im Vergleich zu den vergangenen Monaten wieder einmal wesentlich mehr Tränen drücken meinen Energielevel zusätzlich, was sich dann wiederum auf meine Abwehrkräfte auswirkt.
Dauermüde bin nämlich nicht nur ich, sondern offensichtlich auch immer noch mein Immunsystem. Kaum habe ich mal für ein paar kurze Tage Viren, Bakterien und sonstigen gesundheitlichen Gefahren die Stirn geboten, da erwischt mich schon wieder was. Nach der langwierigen Erkältung mit Lungenentzündung war ich nur einige Tage mit Gesundheit gesegnet.
Diesmal bleibt mir die Stimme weg. Seit gestern bringe ich keinen Ton mehr heraus, nur kaum hörbares, kratziges Wispern ermöglicht mir noch ein absolutes Minimum an Konversation. An Telefonieren oder auch nur eine banale Bestellung beim Bäcker ist nicht zu denken. Darüber hinaus manifestiert sich erneut eine Erkältung. All das war früher nie ein Thema für mich, ich war die letzten dreißig Jahre kaum krank. Mein „Untermieter“ hat eindeutig für Unruhe bei meinen Abwehrzellen gesorgt, meine tägliche Dosis Zytostatika tut ihr Übriges. Und gegen die Erschöpfung komme ich irgendwie nicht an...
Ein Kommentar, den ich heute zu meinem „Alle Jahre wieder“ - Blogpost erhalten habe, trifft es sehr gut. Caro schreibt mir da:
Aber wenn ich Ihnen noch etwas sagen darf: Sie haben wirklich, wirklich ein annus horibilis hinter sich - ein Neugeborenes, kleine Kinder, der Tod Ihrer sehr geliebten Mutter und diese Diagnose: es gibt Menschen, die daran zerbrechen. Sie sind, ein Jahr später, auf einem wunderbaren Weg. Darf ich Ihnen sagen, dass Sie vielleicht versuchen sollten, nicht in die Falle zu tapsen, in der wir Frauen oft sind? Dieses sofort wieder für alle und alles zuständig sein, die Krankheit als vage Bestrafung für eine nicht bestandene Aufgabe zu nehmen, zuviel auf einmal zu wollen etc. Ich glaube, Sie wissen, was ich meine und hoffe sehr, Sie verzeihen meine Belehrungen - wie Sie sich denken können, kenne ich das alles nur zu gut.
Als Belehrung empfinde ich es gar nicht. Danke, Caro, für Ihren Kommentar. Er zeigt mir auf, was ich im Grunde schon weiß, nur ... hmm, „wissen“ und „machen“ sind zwei verschiedene, wenn nicht gar konträre Sachen. Es war tatsächlich das schlimmste Jahr meines bisherigen Lebens und ob ich daran zerbreche, das wird erst die Zukunft wirklich zeigen. Bisher habe ich versucht, immer alles zu geben. Aber gerade deshalb, ... in die Falle getapst, das bin ich längst, besser gesagt, ich bin wohl nie aus der „Falle“ herausgekommen. Drei kleine Kinder mit all ihren Bedürfnissen, ich mit meinen hohen Erwartungen an mich selbst, ein Stück weit auch die hohen Erwartungen meines direkten Umfelds, enorm viele unüberschaubare bürokratische Hürden, die einem die schnelle Rückkehr in unsere Leistungsgesellschaft nahe legen, ein Gesundheitssystem, das Rehabilitation für solche Fälle nicht vorsieht, und letztlich der ganz normale „Alltagswahnsinn“ eines Fünf-Kopf-Haushalts, all das baut einen enormen Druck auf, dem ich mich schlicht nicht entziehen konnte und kann, nicht einmal während der Hardcore-Phasen der Chemotherapie. Wie oft habe ich in den vergangenen Wochen gesagt: „Ich wünschte mir ganz tief drinnen, ich könnte jetzt einfach für ein paar Wochen alles stehen und liegen lassen und ganz alleine irgendwohin gehen, wo ich zur Ruhe komme, wo ich Kraft tanken kann, wo man sich vielleicht auch intensiv um meine Seele kümmert.“ Mhm ... das Leben ist leider kein Zuckerschlecken, es geht nicht, ist hier nicht möglich, es sei denn, man finanziert sich einen Aufenthalt in einem Rehabilitationszentrum selbst. Ach, und nicht zu vergessen die Betreuung der Kinder während dieser Auszeit. Für eine fünfköpfige Mittelstandsfamilie ist das aber schlichtweg nicht machbar. Ich sollte nicht jammern, das möchte ich eigentlich auch gar nicht. Ich bin froh, hier in der Schweiz zu leben, einem Land mit extrem hohen medizinischen Standards.
Was mache ich also? Ich starte einen zweimonatigen Arbeitsversuch. Die Krankentaggeldversicherung ermöglicht mir einen sanften Wiedereinstieg in meinen Job. Ich bleibe nach wie vor krankgeschrieben, kann jedoch nach meinem Empfinden in Absprache mit meinem Arbeitgeber so viel oder auch so wenig arbeiten gehen, wie ich für tragbar halte. Ich bin froh, dass ich ohne Druck den Weg zurück finden kann.
Ohne Stimme und etwas nervös gehe ich heute Morgen zum Bus, der mich zur S-Bahn bringt. Ich will die ersten paar Stunden „Arbeit“ wagen. Es ist ein komisches Gefühl, zurückzukehren. Die letzten Meter des Weges vom Hauptbahnhof zur Schule werde ich langsamer, am liebsten würde ich umdrehen. Es steigt Angst auf, die Angst, dass ich mich nicht mehr zurechtfinde, die Sorge, dass sich meine aktuelle Unkonzentriertheit, meine Müdigkeit, meine Zerstreutheit negativ auf meine Arbeit auswirken. Ich sollte mir keinen Druck machen, ich bin in der luxuriösen Situation, mindestens zwei Monate Zeit zu haben, um zusammen mit meinem Onkologen zu entscheiden, ob ich wieder voll einsatzfähig bin oder nicht.
Das sei noch erwähnt: Mein Wiedereinstieg heute verlief ganz gut, selbst mein Schreibtisch hat sich kaum verändert. Die wenigen Kollegen, die während der Schulferien da sind, haben mir einen warmen, herzlichen Empfang bereitet und auf dem Regal über dem Schreibtisch steht noch immer meine Kaffeetasse, ... als wäre ich nie weg gewesen.
Mein Dream-Team und ich im Dezember 2011
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